Finalistinnen 2025

Wir freuen uns sehr, die Shortlist für den erstmals zu vergebenden Ilse-Schwepcke-Preis für Reiseschriftstellerinnen bekannt zu geben. Unsere Jury hat in den letzten fünf Monaten intensiv beraten, bevor sie sich auf vier herausragende Bücher für die Shortlist geeinigt hat. Diese vier bemerkenswerten Autorinnen zeigen den abenteuerlichen Geist, die literarische Finesse und die scharfsinnige Beobachtungsgabe, die mit unserem Preis gewürdigt werden sollen.

Nachtzugtage

Millay Hyatt

Millay Hyatt ist leidenschaftliche Zugreisende: Es ist der Reiz der »ungepolsterten Begegnung mit der Welt«, der sie noch jedes Flugzeug durch die Reise auf der Schiene tauschen lässt. Sie weiß: In der Fremde und unterwegs sieht man anders, das gilt besonders im Zug, in halber Geschwindigkeit: Das Zugfenster wird zur Verlockung, an ihm laufen bewegte Bilder, ganze Landschaftsfilme vorüber. Im Wagen selbst werden wir zu Voyeuren, die sich für die intimsten Angewohnheiten unserer Mitreisenden interessieren. Wir lauschen dem Streit fremder Paare, zeichnen Psychogramme unserer Sitznachbarn. Auf Schienen kommt ein Denken in Gang, das unsere Gewissheiten stört. Als Reisende gehen wir in eine Schule der Wahrnehmung, in der die eigene Perspektive ins Verhältnis zu anderen gesetzt wird. Die Zugreise verspricht das Glück des Aufbrechens und des Ankommens – und dazwischen die bittersüße Freude der Selbstbefragung. Anhand ungezählter eigener Reisen zeichnet Millay Hyatt eine literarische, anspielungsreiche Kartografie der Zugreise, in der die tausendfach beobachtete Dramaturgie des Abschiednehmens ebenso zu ihrem Recht kommt wie die Verwandlung der Heimkommenden – und zugleich die Einsicht, dass das Passieren von Grenzen nicht für alle eine lustvolle Erfahrung ist.

Mein Spitzbergen

Birgit Lutz

Seit 16 Jahren bereist Birgit Lutz Spitzbergen. Als Expeditionsleiterin bringt sie Besuchern die Geschichte, extreme Landschaft und vielfältige Tierwelt der Insel nahe und bindet ihre Gäste in ein von ihr initiiertes Forschungsprojekt ein. Als Mensch lässt sie sich wieder und wieder verzaubern: vom bläulichen Licht, das zu Beginn des Polarsommers das Eis erhellt, von lachenden Krabbentauchern und übermütigen Schlittenhunden und von den Begegnungen mit der internationalen Community in Longyearbyen, wo man wegen der allgegenwärtigen Eisbären selten ohne Gewehr aus dem Haus geht, Türen und Autos jedoch unabgeschlossen lässt. Durch ihren klugen und zärtlichen Blick auf ihre zweite Heimat weit nördlich des Polarkreises infiziert Birgit Lutz uns mit ihrem Arktisfieber.

Bitteres Blau

Maike Albath

Dass die Italiener verrückt sind, wissen wir. Auch dass sie, nicht ohne Grund, stolz darauf sind: »Siamo pazzi!« – nirgends in Italien schallt das mit so viel Berechtigung wie aus Neapel, vielleicht der schönsten Stadt Europas, von der schon Benedetto Croce sagte, es sei ein von Teufeln bewohntes Paradies. Maike Albath, die Italien, das geistige und das alltägliche, kennt wie ganz wenige nördlich der Alpen, hat mit ihrem neuesten Buch – nach Turin, Rom und Sizilien – das Labyrinth der uralten Stadt am Golf erkundet. Der Fußball und Maradona, Elena Ferrante, die Industrieruinen von Bagnoli, Capri, die Camorra und ihre Feinde, der Vesuv und, wie immer bei dieser Autorin, berühmte und normale Zeitgenossen, denen sie zuhört – auf all das darf man sich zum nun schon vierten Mal freuen.

Am Rande

Regina Hilber

Der Essayband vereinigt Regina Hilbers Exkursionen an die Ränder des östlichen und mittleren Europas, vor allem Orte, die einst hinter bzw. vor dem Eisernen Vorhang lagen. Jene Zwischenaufnahmen u.a. aus Przemyśl, Czernowitz oder Triest mahnen unser Gewissen ein: Politische Zustände und Diagnosen, Shoa und Vergessen, Faschismus und Neofaschismus, Vergangenes im Aktuellen. Sie sind geprägt von gesellschafts- und kulturpolitischer Wachsamkeit, stellen Bezüge der Literaturgeschichte her und heben halbvergessene jüdische Namen aus dem Schatten ans Licht. Ein Wiederaufleben der essayistischen Flaneurliteratur.

Von den Jurorinnen

„Vier herausragende Reiseschilderungen von großer sprachlicher Schönheit versammelt die Shortlist. Sie führen uns in ein bitter blaues Neapel, das von Autorinnen und Autoren so wandelbar und facettenreich erschrieben wurde, wie es der literarische Einfallsreichtum hergibt, und erinnern daran, dass Reisen immer auch im Kopf stattfinden. Sie veranschaulichen uns in der Mitte Europas, zwischen Triest, Ostbrandenburg, Lwiw und Czernowitz, dass eine Reise scheitern kann, die Fremde fremd bleibt und respektvoller Abstand angemessen. Sie nehmen uns mit ins Glück des langsamen Reisens auf abenteuerlichen Bahnstrecken nach Edinburgh, Tunis, Belgrad, Istanbul und Tiflis und erzählen von Mühsal und Reichtum des Zugfahrens und dem Irrsinn von Grenzkontrollen. Und schließlich führen sie in den eisigen Norden, in Gegenwart und Geschichte der Landschaft Spitzbergens, wo Schönheit und Fragilität vom Verschwinden künden und deutlich wird, dass Reiseschilderungen heute auch als Versuche des Bewahrens verstanden werden müssen.“